Kommentar

Und wenn die Schweiz der Nato beiträte?

Die Welt tut der Schweiz nicht den Gefallen, so wie sie im Status quo zu  verharren. Das Konzept der Neutralität wirkt zunehmend dysfunktional. Wollen  wir bestehen, müssen wir uns bewegen.

Christoph Frei 5 min
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Sicherheit ist heute allein im Verbund noch zu leisten. Auf wann also ein ehrliches, ernsthaftes Anklopfen bei der Nato?

Sicherheit ist heute allein im Verbund noch zu leisten. Auf wann also ein ehrliches, ernsthaftes Anklopfen bei der Nato?

Andreas Haas / Imago

Kein Land hat derart lange derart gute Erfahrungen mit der Neutralität gemacht wie die Schweiz. Nirgends ist Neutralität tiefenkulturell so stark verankert, an keinem anderen Ort der Welt kennt sie annähernd hohe und stabile Zustimmungswerte. Was fehlt, ist eine gemeinsame Vorstellung davon, was sie bedeutet.

Wie den Überblick bewahren, wenn unter dem weiten Dach der selbstbestimmten, immerwährenden, völkerrechtlich anerkannten und bewaffneten Neutralität offen und umstritten bleibt, ob selbige Neutralität nun integral oder differentiell, aktiv oder kooperativ, mitgestaltend oder partizipativ, interessiert oder solidarisch, bündnisnah oder bündnisfrei zu gestalten ist?

Zur Person

Christoph Frei, 62, lehrt Staats- und Politikwissenschaften an der Univer­sität St. Gallen. Seit bald 30 Jahren ist er regelmässig Gastdozent an der Militärakademie der ETH Zürich.

Christoph Frei, 62, lehrt Staats- und Politikwissenschaften an der Univer­sität St. Gallen. Seit bald 30 Jahren ist er regelmässig Gastdozent an der Militärakademie der ETH Zürich.

Die Gründerväter der modernen Schweiz hatten weniger Adjektive zur Hand; ein Narzissmus der kleinen Unterschiede war ihnen gänzlich unbekannt. Die Neutralität sei nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck, heisst es in den Erwägungen der Tagsatzung zur Bundesverfassung von 1848 – eine im Moment «angemessen erscheinende Massregel», die unter veränderten Umständen aufgegeben werden könne, vielleicht gar preisgegeben werden müsse. Was würden jene wackeren Magistraten heute befinden? Wie und wie stark haben sich die Bedingungen eines sicheren und guten Lebens in der Zwischenzeit verändert?

Während Volkswirtschaft, Rechtsraum und politischer Raum vor 170 ebenso wie vor 70 Jahren weitgehend in Übereinstimmung waren, sind solche Symmetrien heute nicht mehr vorhanden. Territorial fixierte Staatlichkeit gibt es nach wie vor; die Volkswirtschaft hingegen ist regionalen und globalen Wertschöpfungsketten gewichen, entgrenzten Strömen von Gütern und Kapital, von Daten und Dienstleistungen.

Die schrittweise Integration in die Märkte dieser Welt hat auch und gerade der Schweiz beispiellosen Wohlstand beschert. Der Preis unseres Wohlstands aber heisst rechtliche Anbindung, handelspolitische Verflechtung, Abhängigkeit. Heute ist die Schweiz verpflichtete Partei von über 4200 völkerrechtlichen Verträgen – und damit in einem Mass eingebunden, das allen Sonntagsreden zur Unabhängigkeit des Landes auf der faktischen Seite den Boden entzieht.

Der Befund stark relativierter Autonomie im Gefolge ökonomischer, rechtlicher und technologischer Integrationsprozesse ist deshalb zentral, weil das Ausmass solcher Verflechtung voll auf die Fähigkeit von Staaten durchschlägt, ihre Sicherheit selber zu besorgen. Nukleare Abschreckung ist eines; schon die wirksame Abwehr moderner Abstandswaffen bringt kleine und mittlere Staaten regelmässig an ihre Grenzen. Nicht nur setzt sie den Einsatz komplexer Aufklärungs-, Führungs- und Waffensysteme voraus, sondern auch gleichermassen komplexe Kooperationen mit unseren Nachbarn. Raketen machen keinen Halt beim Zoll.

Die Eidgenossenschaft «wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes», heisst es in Artikel 2 der Bundesverfassung. Eine solche Formel mag der Schweizer Seele guttun. Gleichwohl mutet sie weltfremd an, wie aus der Zeit gefallen. Welche Unabhängigkeit? Unsere Sicherheit wird massgeblich von anderen produziert und finanziert, derweil die Schweiz ihre Verteidigungsausgaben kontinuierlich auf zuletzt unter 1 Prozent des Bruttosozialprodukts hat absinken lassen.

Radikal veränderte Sicherheit

Sicherheit ist heute allein im Verbund noch zu leisten. Auf wann also ein ehrliches, ernsthaftes Anklopfen bei der Nato? Auf wann zumindest eine Kohäsionsmilliarde für die gleiche Nato, wenn wir alle von sicherheitspolitischen und militärischen Anstrengungen namentlich der USA seit Jahrzehnten stärker und grundlegender profitieren als vom Binnenmarkt? Die Ukraine, wird versichert, verteidigt unsere Werte. Könnte sie das auch allein?

Ja doch, die Bedingungen eines sicheren und guten Lebens haben sich radikal verändert. Im Zuge der oben skizzierten Entwicklungen hat Neutralität ihren Wert als aussenpolitische Maxime bis auf Weiteres eingebüsst. Europäische Grossmächte gibt es heute nicht; die Europäische Union steht für den bis anhin konsequentesten Versuch, Selbstbestimmung unter den Bedingungen rechtlicher und wirtschaftlicher Verflechtung neu zu formatieren.

Die früher landläufige Aussage, die dauerhafte Neutralität der Schweiz sei getragen vom Interesse der Staatengemeinschaft, hat über Europa hinaus jede Aura von Selbstverständlichkeit verloren. Für Neutralität gibt es im System der Uno allenfalls Toleranz, mehr nicht. Den urchigen Komplex des Neutralitätsrechts – kodifiziert auf seinem Höhepunkt vor 115 Jahren – hat das moderne Völkerrecht zwar nicht ausgeschieden, aber deutlich hinter sich gelassen.

Die Haager Konventionen setzen den Krieg als natürliches Recht von Staaten voraus; das moderne Völkerrecht ächtet den Angriffskrieg als unnatürlich, abnormal, illegal und irrational. Es verlangt von Staaten den Verzicht auf Gewalt. Dass schliesslich gute Dienste auch ohne Neutralität geleistet werden können, dass weltweit aktive Friedensförderung und eine eigenständige Rolle in der internationalen Politik auch mit einer Nato-Mitgliedschaft sehr wohl zusammengehen, macht das Beispiel Norwegens deutlich.

Von den klassischen Funktionen der Neutralität bleibt eine einzige lebendig – und die hat mit Aussenpolitik wenig zu tun: Es ist die eingangs angedeutete, identitäre Funktion, mit Nebenfolgen für den inneren Zusammenhalt: «So sind wir, und so verstehen wir uns.» Gerade die tiefenkulturelle Verankerung unserer Neutralität erklärt, warum wir sie von unserer Geschichte, von unserem Selbstverständnis, also von innen her denken, statt sie im Lichte eines stark veränderten Umfelds nüchtern auf den Prüfstand zu stellen.

Das geopolitische Umfeld entwickelt sich fort, derweil die Schweiz ihre Strukturen und Institutionen unter Denkmalschutz stellt.

Das geopolitische Umfeld entwickelt sich fort, derweil die Schweiz ihre Strukturen und Institutionen unter Denkmalschutz stellt. In der Hoffnung, dass alles so bleibt? Unter Einsatz beträchtlicher Ressourcen investieren wir unterdessen in die Verlängerungen von Zuständen, die eigentlich unhaltbar, weil schwebend, in Teilen ungeklärt, in Teilen auch unehrlich sind. Das gegenwärtige Verhältnis zur EU gibt ein trauriges Beispiel; die Sicherheitspolitik zumindest der letzten 30 Jahre ist die Kurzgeschichte einer Lebenslüge.

Von anderen Staaten, von anderen Gesellschaften erwarten wir mit grösster Selbstverständlichkeit, dass sie bedeutende, ja enorme Anpassungen leisten – am liebsten zeitnah oder doch in guten Fristen. Sie sollen Menschenrechte besser schützen, Korruption bekämpfen, überhaupt ihr System auf Vordermann bringen. Wie viel aber muten wir uns selber zu?

Nichts wäre diesem Land zum jetzigen Zeitpunkt mehr zu wünschen als Offenheit, ja Mut mit Blick auf einen kollektiven Aufbruch – angefangen in den Köpfen. Ist es naiv, sich über Sekundenformate hinaus Gespräche und Debatten vorzustellen, in denen Tatsachen, Fakten und Meinungen direkt aufeinandertreffen? Wir müssen uns bewegen. Wir müssen miteinander streiten.