Angriffskrieg
Russland könnte eine Diktatur wie Belarus werden: HSG-Professor erläutert in Trogen, wie es mit dem Krieg in der Ukraine und mit Putin weitergeht

Von der Kronengesellschaft Trogen organisiert, hielt HSG-Professor Ulrich Schmid einen Vortrag über die Ukraine, die Obsessionen des Kremls, die Gleichgültigkeit der russischen Gesellschaft und die Zukunft der beiden Kriegsparteien.

Charlotte Kehl
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Seine Expertise ist zurzeit gefragt: HSG-Professor Ulrich Schmid.

Seine Expertise ist zurzeit gefragt: HSG-Professor Ulrich Schmid.

Bild: Donato Caspari

Gegen 60 Leute strömten an diesem lauen Sommerabend in den Kronensaal am Landsgemeindeplatz, um dem Vortag über die Ukraine beizuwohnen. Referent Ulrich Schmid, 1965 in Zürich geboren, kennt die Zusammenhänge aus langjährigen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten. Er studierte Slawistik, Germanistik und Politologie an den Universitäten Zürich, Heidelberg und Leningrad. Seit 2007 ist er an der Universität St.Gallen als ausserordentlicher Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands tätig, mit den Spezialgebieten Medien und Politik in Russland.

Vier Fragen

Warum dieser Angriff Russlands auf die Ukraine? Warum jetzt? Ist die Ukraine ein künstlicher Staat? Wie geht es weiter? Dozent Ulrich Schmid konnte viele Beispiele darlegen, warum die russische Gesellschaft, der Kreml und vor allem Putin sich vom Westen bedroht fühlen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien die USA als Sieger und einzige Weltmacht aus dem Kalten Krieg hervorzugehen. Die drohende Nato-Osterweiterung, der Verlust des Warschauer Paktes sowie der Nato-Angriff auf Serbien (der erste ohne UNO-Mandat) bestärkten Russland in seiner antiamerikanischen Politik.

Putin fühle sich von der Nato mit den früheren Satellitenstaaten Estland, Lettland und Litauen «umzingelt» und bedroht. Das sei aber eine Sache der Perspektive, meint Ulrich Schmid, und dass jetzt mit Finnland und Schweden noch mehr dazu kommen, habe er sich selber zuzuschreiben.

Putin führe diese «militärische Sonderaktion» mit der Kraft der Ideologie, weiss Ulrich Schmid detailliert zu beschreiben. Er bemüht zum Beispiel den Fürsten Wladimir, der von 978/980 bis 1015 Grossfürst von Kiew war. Er gilt als der bedeutendste Fürst der Kiewer Rus und hat unter anderem die Christianisierung initiiert. Putin liess ihm ein riesiges Denkmal in Moskau bauen. Putin wünscht sich eine Russländische Nationenföderation mit russischem Kulturkern.

Warum jetzt?

Der jetzige Zeitpunkt für den Angriff habe vor allem wirtschaftliche Gründe, sagt Schmid. Der Gaspreis stieg nach dem kalten Winter 2020/21 steil an und brachte das nötige Kapital. Die Einverleibung von Belarus durch den russlandhörigen Lukaschenko kam nicht zum gewünschten Ergebnis. Zudem rechnete Putin wahrscheinlich mit weniger starken Sanktionen.

Die Ukraine sei nur ein Scheinstaat, lässt Putin gerne verbreiten. Sie bestehe aus einem prorussischen Osten und einem Ukrainisch sprechenden Westen. Eine Umfrage in der Ukraine ergab vor dem Krieg eine sehr breite Zustimmung zum ukrainischen Staat vor allem im Westen, etwas weniger deutlich im Osten. Nun sei das Zugehörigkeitsgefühl zur Ukraine beinahe einhellig, sagte Schmid. Der Kreml soll tatsächlich geglaubt haben, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer die russischen Soldaten mit Blumen empfangen würden.

Wie geht es weiter?

Mit dem sogenannten Gesellschaftsvertrag hält Putin den grösseren Teil der Bevölkerung in Russland bei Stange. Seine Beliebtheitswerte schwanken meist zwischen 60 und 80/90 Prozent. Zurzeit weist die Kurve nach unten und die Möglichkeit, dass es kippt, sei da, sagt der Dozent. Eine totale Abschottung wie in Nordkorea sei unwahrscheinlich – eine unbeliebte Diktatur nach dem Vorbild Belarus schon eher. Es besteht aber die Hoffnung, dass nach der Ära Putin ein junger «Gorbatschow», ein überzeugter, moderner Patriot, der eher auf Zusammenarbeit statt auf Zerstörung setzt, das Zepter übernehmen könnte, so Schmid.